
Das Flirten hat mir ein richtiges Hochgefühl gegeben
von Sylvia J. (nach sechs Jahren Trockenheit in AS)
Übersetzung übernommen aus „Lebensberichte“, 2. Auflage 2016 Seite 13 -18
nach der amerikanischen Originalausgabe „Member Stories – 1989“
Nachgedruckt in Member Stories 2007, Seiten 120-123 mit dem Titel „The Only Way I Knew“.
Ich erinnere mich daran, wie ich als kleines Mädchen von etwa fünf Jahren auf dem Schoß meines Großvaters saß und ihm die Haare kämmte. Ich fühlte mich dabei glücklich und hatte gute Gefühle. Als ich sieben Jahre alt war, starb mein Großvater. Danach bekam ich Schulschwierigkeiten: ich konnte mich nicht konzentrieren, träumte in den Tag hinein und litt unter Kopfschmerzen. Ich war ein sehr einsames Kind, nachdem ich diese besondere Beziehung verloren hatte. Ich wusste nicht, von wem ich diese Zuneigung wieder bekommen würde, und so tröstete ich mich mit meinen Fantasien, in denen ich eine Märchenprinzessin war, die von einem schönen Prinzen in ein Land der Glückseligkeit entführt wird, wo wir ewig leben, die schönsten Dinge tun und unsere Liebe teilen würden.
Ich war das mittlere Kind. Meine ältere Schwester war gut in der Schule und sehr zuverlässig. Meine jüngere Schwester war sehr schön und frühreif, so dass die Menschen ihr stets viel Aufmerksamkeit schenkten. Ich wollte immer so sein wie meine Schwestern. So bemühte ich mich darum, besonders attraktiv zu sein und möglichst viele Freunde zu haben. Mit denen, die überall beliebt waren, kam ich aber nicht zurecht, und so schloss ich mich denjenigen an, die weniger anerkannt waren. Auf diese Weise wurde ich dann doch noch ein recht geselliger Mensch. Als Teenager fand ich heraus, dass ich auch viele Jungen als Freunde gewinnen konnte, wenn ich mit ihnen flirtete. Die Gefühle, die ich mir dadurch verschaffte, wenn ich all die Aufmerksamkeit auf mich zog, waren die gleichen, die ich seinerzeit in den Tagen mit meinem Großvater empfand.
Das Flirten war für mich die einzige Möglichkeit, Kontakt mit den Männern in meiner Umgebung aufzunehmen. Zwar hatte ich auch Gefühle von Schuld und Scham wegen der Art meines Flirtens, doch ich dachte, ich sei nicht geistreich genug, um mit ihnen über etwas zu reden, das sie vielleicht interessieren könnte. Ich fühlte mich zerrissen zwischen meinem Wunsch nach Anerkennung und der Art, wie ich sie zu erreichen versuchte. Zwischen unserem Haus und der Kirche hatte ich eine geheime Stelle, wo der Klee besonders hoch wuchs. Dort saß ich oft und heulte stundenlang. Ich fühlte mich minderwertig und einsam. Und je minderwertiger und einsamer ich mich fühlte, umso mehr wuchs mein Bedürfnis nach Zuwendung, und der Kick, den ich beim Flirten spürte, wurde immer intensiver. Das Flirten führte später zum Petting, und je stärker der Rausch durch die sexuellen Gefühle und die Zuwendung wurde, umso mehr quälte mich mein Schuldbewusstsein. Dann lief ich wieder an meine geheime Stelle, um mich in meiner Einsamkeit vor lauter Schuldgefühlen auszuweinen. Wenn ich heute zurückschaue, dann sehe ich ganz deutlich die qualvolle Abwärtsspirale, in der ich immer mehr gefangen war.
Mit siebzehn lernte ich einen Jungen kennen, der trank. Ich war noch nie mit einem Jungen ausgegangen, der sich in meiner Anwesenheit betrunken hatte. Bereits bei unserer zweiten Verabredung war er volltrunken, und mir wurde augenblicklich klar, dass er ein nettes Mädchen wie mich brauchte, das ihm helfen konnte, nicht mehr so viel zu trinken. Er war der erste Mann, mit dem ich Sex hatte – und ich wurde schwanger. Wir feierten Hochzeit in einem Dom, und er kam zu spät und war betrunken. Nachdem das Baby gekommen war, schwor ich mir, mich scheiden zu lassen. Ich war voller Wut und fühlte mich die meiste Zeit im Stich gelassen. Er war immer nur außer Haus bei seinen Saufbrüdern, und ich fühlte mich immer einsamer. Ich suchte nach dem Gott meiner Kindheit, um Trost zu finden, aber ich wusste nicht, wie ich ihn finden sollte. Dann fing ich wieder an zu flirten und bald merkte ich, wie ich mich wieder besser fühlte. Wann immer ich mich schlecht fühlte, das Flirten wurde zu meiner Droge.
Während ich immer häufiger nach meiner Droge griff, kamen langsam auch wieder meine Fantasien vom schönen Prinzen, der mich heilen würde. Mit dem Flirten kam es schließlich auch wieder zu Affären, und bei jeder neuen Affäre habe ich mich bis über beide Ohren verliebt. Zunächst war ich von der Jagd wie berauscht, doch dann folgte meist der Jammer darüber, benutzt worden und von einem Menschen wie besessen zu sein, den ich nie würde besitzen können. Schuld, Scham und Reue, das waren die Gefühle, mit denen ich tagtäglich fertig werden musste. Ich schwor mir, mit all dem aufzuhören, aber ich schaffte es nicht. Ständig suchte ich nach der Liebe, die ich brauchte, und ich hasste mich gleichzeitig wegen der Männer, wegen Sex und wegen meiner Unfähigkeit, endlich damit aufzuhören. Ich betete und betete, bis ich schließlich Gott zu verfluchen begann, weil ich nicht aufhören konnte. Ich glaubte, Gott wolle mich nicht mehr erhören. Ich fühlte mich so hoffnungslos, dass ich am liebsten gestorben wäre.
Ich versuchte, mit Beruhigungsmitteln den Schmerz in mir zu betäuben, aber das half nicht. Ich ließ die Beruhigungsmittel sein und lief zu einem Psychiater. Der konnte mir ein bisschen helfen. Ich konnte mir jetzt mein Verhalten etwas mehr aus einer inneren Distanz heraus anschauen und stellte fest, dass es vielen Menschen ganz ähnlich geht wie mir. So fand ich auch, dass es völlig normal sein müsse, wenn es so viele Menschen gibt, die das gleiche tun wie ich. Diese rationale Erklärung für mein Verhalten erlaubte es mir auch, wieder auf Jagd zu gehen, und diesmal war ich von einem bestimmten Mann besessen – und blieb es auch.
Ich fand es widerlich, von einem Menschen derart besessen zu sein und kämpfte ständig darum, meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Zwischen diesem Mann und mir tobte ein ständiger Krieg darum, wer stärker ist. Ich konnte nie genug von ihm bekommen. Die Lüsternheit war so stark, dass sie mich zu zerstören drohte. Ich hasste ihn. Ich liebte ihn. Einerseits wollte ich ihn unbedingt glücklich machen, andererseits hatte ich nie das Gefühl, dass ich es wirklich geschafft hätte, ihn glücklich genug gemacht zu haben. Ich kam mir vor wie ein Junkie, und ich hätte aus der Haut fahren können, wenn ich von ihm keinen Anruf bekam. Ich ekelte mich davor, wie ich lebte, aber ich konnte nicht Schluss machen. Ich fühlte mich wertlos und leer. Ich glaubte zu wissen, wie es in der Hölle aussieht. Aber Gott hat meine Gebete doch erhört und mir einen Weg gezeigt. Als ich erstmals von Al-ANON erfuhr, wusste ich sofort, dass es hier eine Antwort für mich gibt. Meine familiäre Situation war inzwischen völlig verrückt geworden: ich hatte eine Tochter, die an der Nadel hing, und mein Ehemann war Alkoholiker. Wir suchten nach Hilfe, und jeder von uns fand sich in einem anderen Therapiezentrum wieder. Mir empfahlen die Berater eine Therapie wegen meiner Co-Abhängigkeit, doch ich wusste, mein Problem waren Männer und Sex. Während der längsten Zeit meines Lebens hatte ich versucht, mein sexuelles Verhalten unter Kontrolle zu bekommen; jetzt wurde mir klar, dass ich es nicht mehr schaffen würde. Im Gegenteil – mein Problem hatte mich unter Kontrolle!
Ich arbeitete im Programm von Al-ANON – immer nur für einen Tag – um meine Lüsternheit zu beherrschen. Den Mann, nach dem ich so verrückt war, habe ich zwar nicht mehr gesehen oder mit ihm gesprochen, doch habe ich weiterhin mit anderen Männern schamlos herum geflirtet. Ich dachte, das Flirten allein sei in Ordnung, und es schien auch so, als ob sich mein Leben langsam bessern wollte. Ich hatte keinen Kick mehr und auch keine Depressionen. Aber ich hatte weiterhin Probleme mit meinen Gefühlen.
Eines Tages hörte ich in einem Meeting von den Anonymen Sexaholikern. Es war mir sehr bald klar, dass ich genau dieses Programm nötig hatte, aber ich bekam auch große Angst, wovor ich überhaupt sonst noch kapitulieren müsste. In der Woche vor dem ersten Meeting saß ich in einer Achterbahn der Gefühle. In meinem ersten AS-Meeting kam ich endlich dahinter, dass mein Flirten mir das Rauschgefühl vermittelt, das ich aufgeben muss, wenn ich sexuell trocken werden will. Ich hatte bis dahin auch stets angenommen, dass die Masturbation in Ordnung sei, doch das Programm sagte nein. Mir wurde klar, wie Flirts und Masturbation in mir Schuldgefühle geweckt hatten, die mich ihrerseits derart aufwühlten, dass sie mich davon abhielten, wahre Genesung zu erfahren.
Als ich endlich bereit war loszulassen, tat Gott das Seine und befreite mich von meiner Besessenheit. Ich habe inzwischen erfahren, dass ich in emotionalen Schmerz gerate, wenn ich nicht im Programm arbeite; und wenn ich in diesem emotionalen Schmerz stecke, dann windet sich mein altes Verhalten wieder in mein Leben hinein. Gott aber hat mir einen Weg gezeigt, wie Er die Oberhand behält, und ich muss mich jetzt nicht mehr ständig mit meiner Besessenheit beschäftigen. Er tut es für mich.
Durch das Genesungsprogramm der Zwölf Schritte hat Gott in meinem jetzigen Leben einige Wunder vollbracht: mein Mann und ich sind immer noch miteinander verheiratet. Wir sind dabei, die Balance zwischen unserer persönlichen Selbständigkeit in der Ehe und der Hingabe an die eheliche Gemeinschaft zu erkennen. Wir haben eine Beziehung zu Gott, vor allem weil Er die Leere ausfüllt, die wir sonst in panischer Angst zugestopft hatten. Mit dieser Freiheit haben wir die Fähigkeit entdeckt, einander auf eine ganz neue und aufregende Art zu lieben. Unsere Beziehung zueinander ist warm, völlig anders als früher, und sie wird immer tiefer.
Mein Mann und ich haben uns selbständig gemacht, um anderen zur Genesung zu verhelfen. In dieses Projekt haben wir alles hineingesteckt, was wir haben, sowohl finanziell als auch physisch, und wir vertrauen auf Gott, dass Er uns helfen wird, unsere Rücklagen wieder aufzufüllen. Wir vertrauen beide dem Genesungsprozess, den das Zwölf-Schritte-Programm anbietet, und wir haben uns entschieden, anderen auf ihrem individuellen Weg durch dieses Programm behilflich zu sein. Auch unsere Tochter hat sich dem Genesungsprozess anvertraut und ist an unserem Unternehmen beteiligt.
Der letzte Absatz ist aus der englischsprachigen Neuausgabe der member stories 2007 übernommen, diese erweiterte Neuausgabe der Lebensberichte wurde bisher nicht in die deutschsprachigen AS-Literatur übernommen:
Bis zu unserer Pensionierung konnten wir viele Jahre lang anderen helfen. Wir haben drei wunderbare Enkelkinder, die wir oft sehen. Ich betreibe weiterhin mein Friseurgeschäft, vielleicht zu Ehren meines Großvaters. Unser einziger Sohn hasste mich früher für das, was ich getan hatte. Heute ruft er mich an und spricht mit mir über seine Probleme. Ich kann sagen, dass die Versprechen für mich in Erfüllung gegangen sind. Meine Familie ist gewachsen und hat sich entwickelt. Die Angst vor wirtschaftlicher Ungewissheit ist verschwunden. Wir sind spirituell gewachsen. Das Misstrauen, das früher in unserem Leben herrschte, ist vergangen. Ich bedauere nichts und freue mich auf das, was jeder Tag bringt. Gott hat viel von meinem Egoismus beseitigt. Er hat mir die Gewissheit gegeben, dass für mich gesorgt wird und ich genau das bekomme, was ich für mein geistiges Wachstum brauche. Meine Gebete wurden erhört, weil ich die Schritte unternehme, die es Gott ermöglichen, in meinem Leben zu wirken. Ich habe das Gefühl, dass sich meine Hoffnungen, Liebe zu finden und anderen Gutes zu tun, erfüllen – einen Tag nach dem anderen.
Sylvia J., Oklahoma, USA
Von Auftragskiller zu Liebster
Das ist Sylvias Geschichte über ihre geheilte Beziehung zu ihrem Mann Gene, wie sie von ihr in späteren Jahren bei verschiedenen Speakermeetings erzählt wurd
Ich war sehr wütend, als mein Mann zu spät und betrunken zu unserer Hochzeit kam. Ich werde mich von ihm scheiden lassen, sobald unser Baby geboren ist, sagte ich mir. Aber wir blieben zusammen, während unsere Kinder aufwuchsen.
Fünfundzwanzig Jahre später waren wir immer noch verheiratet. Unsere Familie steckte in einer Krise. Meine Tochter war suchtkrank. Mein Mann war Alkoholiker. Ich war sexsüchtig, was ich aber noch nicht wusste. Ich gab meinem Mann die Schuld. Wenn er nicht dauernd trinken würde, dann wäre ich nicht ständig unterwegs.
Ich sparte Geld, um einen Auftragskiller anzuheuern, der meinen Mann töten sollte. Meine Tochter stahl mein Geld für ihr Kokain. Wir suchten nach einer Behandlungsmöglichkeit für unsere Tochter. Doch stattdessen begaben wir uns alle drei in verschiedene Behandlungsprogramme, die zum Teil mit dem Geld das ich für den Auftragskiller gespart hatte, finanziert wurden.
Gene und ich begannen, an unserer Ehe zu arbeiten. Wir vereinbarten, noch sechs Monate verheiratet zu bleiben. Dann einigten wir uns auf weitere sechs Monate. Dann weitere sechs Monate. Schließlich, nach einigen Jahren, brauchten wir keine weiteren Vereinbarungen mehr zu treffen. Für beide von uns erforderte es eine Menge Meetings, eine Menge Arbeit, eine Menge Therapie, eine Menge Geduld und eine Menge Telefonate mit unseren Sponsoren.
Heute ist mein Mann ein liebevoller, aufmerksamer Mensch. Er engagiert sich in seinen AA- und S-Anon-Programmen. Er setzt sich dafür ein, anderen zu helfen. Immer nur für heute sind wir seit mehr als 65 Jahren verheiratet. Es war eine glückliche Zeit. Ich bin so froh, dass ich ihn nicht umbringen ließ. Ich bin dankbar, dass er noch da ist. Ich bin dankbar, dass Gott mir einen liebenswürdigen, verständnisvollen Partner geschenkt hat.