Good Grief

Ach du liebe Zeit!

In meiner Erinnerung war der Ausdruck „Ach du liebe Zeit!“ („Good grief“) ein gängiges Schimpfwort der Comicfiguren in den Peanuts. Einen Großteil meines Lebens habe ich „Ach du liebe Zeit!“ verwendet, um Erstaunen, Bestürzung oder Frustration auszudrücken – ohne je über die tiefere Wahrheit in diesem Euphemismus nachzudenken. Bevor ich am 21.10.1998 ins AS-Programm kam, lebte ich mit einer Ansammlung eingefrorener Trauer. Erst nach mehreren Durchgängen durch die Zwölf Schritte begann ich zu verstehen und anzunehmen, wie heilsam Trauer sein kann – und wie gut sie mir tat.

Mit 14 nahm sich ein mir sehr nahestehender Onkel das Leben – ein Opfer ungelöster Kriegstraumata aus dem Zweiten Weltkrieg. Mit 16 starb mein ältester Bruder völlig unerwartet an einem Aneurysma im Gehirn – er war gerade mal 22 Jahre alt. Diese plötzlichen, nahen Todesfälle trafen mich tief – es waren meine ersten intensiven Erfahrungen mit Trauer. Es fühlte sich an, als hätte die Trauer mein junges, schmerzendes Herz weit aufgerissen. In beiden Fällen verlor ich emotional völlig die Kontrolle. Ich schämte mich für mein Verhalten, dafür, dass ich gebrochen war und weinte. Ich nahm mir vor, meine Gefühle bei Trauer künftig besser zu kontrollieren.

In den nächsten fünfzehn Jahren verlor ich viele Weggefährten: Zwei meiner besten Freunde, drei weitere Schulkameraden, zwei Cousins und ein jüngerer Nachbarsjunge – alle durch Suizid. Ein weiterer Schulfreund starb an einem Hirntumor, fünf andere kamen bei Verkehrsunfällen ums Leben. Trauer wurde etwas, das ich unterdrückte. Ich versuchte, den Schmerz zu minimieren und schnell weiterzumachen. Mir war nicht klar, dass all die ungelebte Trauer in meinem Körper und meiner Seele eingefroren blieb – und dass ich zunehmend hartherzig wurde. Bald fühlte ich nichts mehr, wenn ich hörte, jemand sei gestorben oder getötet worden. Schlimmer noch: Ich wurde immer gefühlloser, ja herzlos.

Meine Mutter starb, als ich 32 war – sie war die erste Person, um die ich wirklich trauerte. In dieser Zeit trauerte ich auch um meinen Bruder, der sechzehn Jahre zuvor gestorben war. Ich verspürte Erleichterung – ich ließ zu, die Liebe und den Schmerz des Familienverlustes zu fühlen. Diese Erfahrung legte den Grundstein für meine spätere Zwölf-Schritte-Arbeit. Aber damals ließ ich es noch nicht zu, mich emotional der Vergangenheit oder weiteren Todesfällen zu nähern.

Kurioserweise verspürte ich jedes Jahr im Herbst – meist ab Mitte Oktober bis in den November hinein – eine dunkle, depressive Phase, die ich „meinen dunklen Monat“ nannte. Erst nach 15 Jahren erkannte ich das wiederkehrende Muster. Die unverarbeitete Trauer blieb fast 30 Jahre lang in mir. Kein Wunder, dass das Nichttrauern zur Eskalation meiner Sexsucht beitrug. Ich flüchtete mich in eine Fantasiewelt – sie wurde mein Trost und mein Rückzugsort.

Etwa vier Jahre nach Beginn meiner AS-Gene­sung begann ich im November, mit meinem Sponsor – meinem ersten engen Freund seit Jahren – über Trauer zu sprechen. Ich erzählte von der Erleichterung, die ich beim Trauern um meine Mutter gespürt hatte. Woche für Woche zählte ich nach und nannte all die Suizide und Todesfälle. Von sechzehn Todesfällen unter Gleichaltrigen in fünfzehn Jahren waren dreizehn männlich. Das beeinflusste mein Verhalten stark – vor allem, wenn es um Männerfreundschaften ging. Ich zog mich aus engen Beziehungen zurück. Ich versteckte meine Gefühle und ging innerlich auf Abstand – vor Menschen, Orten und Dingen, die sich unangenehm anfühlten.

Mir wurde bewusst, dass ich mir eine Art „keramische Rüstung“ zugelegt hatte – ein Schutzpanzer, wie wir ihn in der Genesung nennen. Zum Glück hatte sie Risse, durch die gelegentlich Gefühle eindringen konnten. Doch in diesem selbstgebauten Kerker waren auch “Schuldgefühle, Selbsthass, Reue, Leere und Schmerz” und ich wurde “nach innen getrieben, weg von der Realität, weg von der Liebe” – bis ich mich fast völlig in mir “verloren und verirrt” hatte (WB 235).

In der Genesung begann ich, die Verstorbenen beim Namen zu nennen, mich liebevoll an sie zu erinnern, mit sicheren Menschen darüber zu sprechen und für sie zu beten. Ich lernte: Der Schmerz über den Verlust wird mit der Zeit weniger – und am Ende bleibt die Liebe. Das Trauern half mir, Aspekte meiner Sucht loszulassen – und auch meine Überlebensschuld. Ich lernte Mitgefühl. Mit weiterer Arbeit an den Schritten wurde ich nach und nach warmherziger und wagte es, Freundschaften mit anderen Männern zu schließen.

Trauern hat für mich einen Anfang, eine Mitte – und ein sanft offenes Ende (Ich bete noch heute für meine Freunde und geliebten Menschen). Durch die Schritte wurde ich zunehmend bereit, meine Charaktermängel aufzugeben. Ich bin dankbar für meine Genesung – und sogar dafür, ein Sexaholiker zu sein. Heute bin ich täglich mehr “völlig bereit” (6. Schritt), “meinen Willen und mein Leben meiner Höheren Macht anzuvertrauen ” (3. Schritt) – denn ich weiß: Jenseits meiner Angst und meines Widerstands warten tiefere Beziehungen, mehr Liebe und größere Freiheit auf mich (WB 241).

„Ach du liebe Zeit!“ – ich kann jetzt “der Welt in die Augen schauen und frei und aufrecht” dastehen (WB 237).

Jack H., Kalifornien, USA

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