The Incredible Gift of Being a Different Person image

Ein anderes Leben, dank der Nüchternheitsdefinition von AS

2008 kam ich zu AS. Bis dahin war mein Leben eine Abfolge von zwanghafter Masturbation, Pornografie, Voyeurismus, Exhibitionismus und zahllosen verstohlenen Kontakten oder One-Night-Stands mit anderen Männern gewesen. Die einzige Erfahrung einer Verbindung war eine mehr als zwanzigjährige Missbrauchsbeziehung mit einem alkoholkranken Mann gewesen. Als ich die Nüchternheitsdefinition von AS (ND) das erste mal las, war ich enttäuscht, denn ich fühlte mich anders. Ich definierte mich immer noch als schwul (engl. „gay“, eigentlich fröhlich, lustig), obwohl an meiner Situation nichts fröhliches mehr war. Obwohl ich mich mit dem, was die ND vorschlug, nicht identifizieren konnte, ließen mich zwei Wörter aufhorchen: Das erste Wort war „Freiheit“. Das Versprechen der ND ist „Freiheit von jeder Art von Sex“ (im Original: „freedom from sex of any kind“, in der deutschen Übersetzung: „Enthaltsamkeit von jeder Art von Sex“).

Das war eine provokante Idee, denn die Suche nach zwanghaftem Sex war immer mein größter Antrieb gewesen und hatte mir die Illusion von Freiheit gegeben. Ich war unfähig mir ein Leben ohne sie vorzustellen und ganz sicher war ich mir nicht der Knechtschaft bewusst, in die ich mich begeben hatte.

Das zweite Wort war dieser Begriff der „Lüsternheit“. Das war das fehlende Puzzleteil. Ich hatte vergeblich versucht mit dem sexuellen Ausagieren und all seinen Folgeerscheinungen aufzuhören, aber es hatte mir nie gedämmert, dass Lüsternheit zu „trinken“ den Exzessen des Ausagierens voranging und sie auslöste. Echte oder virtuelle Menschen zu scannen führte immer zu noch mehr Scannen, aber es stillte nie mein Bedürfnis mich mit ihnen zu verbinden.

Ich war ganz sicher nciht begeistert von der AS-Lösung, aber ich entschied mich, ihr eine Chance zu geben, denn das Problem – am Ausagieren sterben – erschien noch übler. Ich nahm mir einen britischen Sponsor, arbeitete die Schritte und begann auch andere zu sponsern. Langsam setzte Veränderung ein, aber ein paar Hürden hatte ich noch zu nehmen. Eine davon war die Idee der Höheren Macht und eine andere meine Homosexualität. Mithilfe eines amerikanischen AS-Mitglieds gab es bei beiden gleichzeitig einen Durchbruch und ich machte eine spirituelle Erfahrung. Ich bat Gott, mich von der Besessenheit einen Partner zu finden zu erlösen und am nächsten Morgen war ich davon befreit. Leider hat es noch einige weitere Jahre gedauert, bis ich akzeptieren konnte, dass ich auf Lüsternheit verzichten kann. Solange ich diese Einstellung hatte, fühlte ich mich einsam, nutzlos und ängstlich.

2014 wurde ich gebeten für die Zeitschrift ESSAY meine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Rückblickend kann ich sehen wie selbstzentriert und problemorientiert dieser Versuch war. Ich war in Leugnung und bereitete einen Rückfall vor, der im Dezember 2013 begann und im April 2014 eskalierte. Ich war depressiv und selbstmordgefährdet, konnte weder mit noch ohne Lüsternheit leben. Das Spiel war aus. Ich hatte aber noch keine Idee, wie ich wieder in die Genesung zurückkriechen könnte.
Ein Freund schlug vor einen Therapeuten zu konsultieren und um ein Antidepressivum zu bitten. Das tat ich. Als ich geistig ein wenig ruhiger wurde, las ich zufällig erneut den Anfang von Kapitel 5 im Blauen Buch.

Dieses Mal traf mich das Wort „Ehrlichkeit“ wie ein Blitzschlag. Das war genau das, was mir fehlte! Niemals in meinem ganzen Leben war ich rigoros ehrlich gewesen. Ich hatte meine Familie, Freunde und Kollegen belogen, aber auch meinen Sponsor, meine Freunde im Programm, mich selbst und Gott. Bis zu diesem Zeitpunkt war lügen für mich natürlicher gewesen als atmen. Jetzt entschied ich mich komplett ehrlich zu werden und das führte prompt zu Ergebnissen: Gelassenheit, emotionale Stabilität und Verbindung mit meinen AS-Freunden.

Nüchtern entschied ich mich, die ND aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Sie gibt mir einen sicheren Hafen, wo ich ich selbst sein kann und nicht so sein muss, wie die Welt mich einzuordnen scheint. Die ND anzunehmen und nach ihr zu leben hat mein Leben auf folgende Weise vom Kopf auf die Füße gestellt:

1. Von außen betrachtet ist die spektakulärste Veränderung das was ich mein „coming in“ nenne. Am Ende meiner Pubertät hatte ich ein „coming out“ und nahm den schwulen Lebensstil an. Ich habe alles mitgenommen, aber es schien nie mit dem zusammenzupassen, was ich wirklich bin. Oft war ich von meinen sexuellen Aktivitäten angeekelt gewesen, aber die Lüsternheit ließ mich trotzdem immer wieder zu ihnen zurückkehren. Als ich mich völlig aus dem schwulen Leben zurückzog, sprang plötzlich eine neue Tür auf. Ich wurde für Frauen erreichbar und auf einer Pilgerreise meiner Glaubenstradition traf ich eine, die meine Frau wurde. Durch sie bin ich heute Großvater dreier wunderbarer kleiner Mädchen. Ich reagiere immer noch mit sexuellen Gefühlen auf Männer, aber heute betrachte ich diese gleichgeschlechtliche Anziehung als Manifestation meiner sexuellen Krankheit.

2. Für mich persönlich ist die atemberaubendste Veränderung mein spirituelles Wachstum. Ich war immer ein Agonistiker gewesen. Ich hatte den Gedanken akzeptiert, dass irgendeine intelligente Planung die Welt erschaffen habe, aber kein weiteres Interesse an ihrer Schöpfung habe. Heute glaube ich an einen liebenden Gott, der sich um mich kümmert und mir Tag für Tag die Gnade der Genesung schenkt. Ich bin zu der Religion meiner Kindheit zurückgekehrt, die zufällig die gleiche Auffassung von Sexualität hat wie unsere ND.

3. Früher machte ich meine Eltern für alles verantwortlich, was in meinem Leben falsch lief. Mein Vater war ein abwesender Alkoholiker und meine Mutter litt an Tobsucht, Depression und neurotischen Zuständen. Indem ich mir ehrlich meinen eigenen Anteil betrachtete und Wiedergutmachung leistete, schuf ich Voraussetzungen für gegenseitige Vergebung. Als ich den Kontakt zu ihnen wieder aufnahm, waren sie grade ich einer finanziellen Krise, durch die ich ihnen helfend beistehen konnte.

4. Ich war, was meinen Körper und meine Beziehungen anging, immer sehr streng mit mir gewesen. Heute kann ich das Leben genießen und habe Spaß an wandern, Rad fahrn, campen oder tanzen.

5. 40 Jahre lang hatte ich an einer übersäuerten Verdauung und chaotischer Darmaktivität gelitten, auf die ich mit einer Essstörung reagierte. In AS fand ich die Kraft mich meiner „Selbstmedikation“ zu stellen. Mit der Hilfe einer Diätassistentin gewannt ich 15 kg Gewicht und änderte mein Essverhalten.

6. Selbstzentriertheit und Coabhängigkeit gehören zu meinen Hauptcharakterfehlern. Dienst in meiner Glaubenstradition und in AS zu leisten hat sich als perfektes Gegengift erwiesen und hat mich sozial und spirituell wachsen lassen.

Keine dieser grundlegenden Veränderungen wäre ohne die Klarheit unserer ND möglich gewesen. So lange ich mich von Lüsternheit enthalte und meinen Eheversprechen treu bleibe, einen Tag nach dem anderen, muss ich nicht zu der Scham und den Qualen meiner Vergangenheit zurückkehren. Ich bin frei von den Klischees, nach denen zu leben die Gesellschaft von mir erwartet. Ich unterscheide mich definitiv von der Person, die ich war, und was ist das für ein unglaubliches Geschenk!

Jean V. Belgien

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