Das Leben als Sexsüchtiger kann sehr schwierig und stressig sein, besonders wenn in meinem Land ein Krieg tobt. Es ist so schwer, sexuell und emotional nüchtern zu bleiben. Aber es geht. Also habe ich ein paar einfache Regeln für mich aufgestellt, die auf den spirituellen Prinzipien des 12-Schritte-Programms basieren.
- Das Wichtigste zuerst. Nüchtern zu bleiben ist das Beste, was ich tun kann, um meinem Land in diesen schweren Tagen zu helfen. Denn im Rückfall bin am Ende ich der größte und manchmal der einzige wirkliche Feind meiner Freunde und meiner Familie. Krieg, Pandemie, sogar das Ende der Welt sind keine Entschuldigung mit der Programmarbeit aufzuhören und wieder auszuagieren. Selbst wenn ich heute sterbe möchte ich nüchtern sein. Eigentlich macht doch jeder Süchtige sein eigenes Pearl Harbor durch, verliert seinen eigenen Krieg und verwandelt sein Leben in ein Trümmerfeld. Um zu überleben muss ich jetzt meine Reinheit an die erste Stelle setzen. Diese Klarheit ist das Ergebnis meiner Beziehung zu meiner Höheren Macht, die mir zum Sieg verhilft. Der Krieg wird eines Tages enden. Kann ich zur Nüchternheit zurückkehren, wenn ich mich für einen Rückfall entscheide? – Wer weiß?
- Alles loslassen, was ich nicht unter Kontrolle habe. Weil Nachrichten über Krieg oder Hass mich triggern höre ich sie mir nur begrenzt an. Das schaffe ich nicht immer. Meine Krankheit lässt mich nach Feinden suchen, die ich bekämpfen kann und der Krieg in meinem Land ist genau so eine Rationalisierung "Feinde" zu finden. Das Wissen um die Kriegsereignisse ist oft ein Ausdruck meiner Kontrollsucht und meines Wunsches, meinem wirklichen Leben zu entkommen, das mir manchmal langweilig erscheint. Wäre ich ein General, ein Politiker oder zumindest ein Opfer des Krieges, so würde ich mich als Held fühlen. Meine Krankheit will, dass ich eine große, dramatische Rolle im Krieg spiele. Somit bedeutet weniger über den Krieg zu wissen und nachzuenken für mich, dass ich aktiver und nützlicher für andere sein kann. Manchmal erscheint es mir jedoch respektlos gegenüber meinem Volk und meinem Land, mich nicht für ihr Schicksal zu interessieren. Dann erinnere ich mich an Punkt 1 und daran, dass ich nur ein gewöhnlicher geisteskranker Mensch bin, der lediglich durch Gottes Gnade nüchtern ist.
- Mich immer daran erinnern, wer ich bin und wozu ich fähig bin. Es ist sehr schwer ehrlich zu mir selbst zu sein, aber genau das lehren mich die Schritte. Wenn ich von Morden und Kriegsverbrechen höre, möchte ich grollen und in meinem gerechten Urteil über andere schwelgen. Aber wenn ich mich mit anderen vergleiche entfremde ich mich nur von der Wahrheit über mich selbst aus Sehnsucht, vor mir selbst gut da zu stehen. Die Handlungen und Gräueltaten anderer zeigen eigentlich nur, wozu ich selbst ohne Gott und seine Führung fähig bin. Und wenn dies für mich interessant ist, auch unter dem Gesichtspunkt von Verurteilung und Leugnung, so bedeutet das, dass ich tief in mir den Wunsche habe, diese Dinge selbst auszuprobieren und die Reaktion der anderen zu beobachten. Ich bin ein Sexsüchtiger, und wenn Lust und Sex im Spiel sind werde ich vor keinen Grenzen und Verboten Halt machen können, wenn Gott mich nicht aufhält. Wenn ich mich also heute nicht wie eine lüsterne Bestie benehme, so ist das gar nicht mein Verdienst, sondern Gottes Gnade und sein Wirken in meinem Leben. Er führt mich, weil ich es selbst möchte und zulasse, dass er mein Leben zum Besseren verändert.
- Meine Gefühle beim Namen nennen. Als Süchtiger wollte ich permanent viele Emotionen aufnehmen, sowohl positive als auch negative, damit mein Gehirn Dopamin ausschüttet und ich mich gut fühle und high werde. Als Co-Abhängiger schämte ich mich wiederum für meine Gefühle und versuchte, sie zu unterdrücken. Deshalb hat meine Krankheit in letzter Zeit einen Ausweg darin gefunden, dass ich mich - bewusst oder unbewusst - in die Lage der Opfer von Luftangriffen versetze. Ich male mir die Gefühle von Flüchtlingen aus, die ihre Lieben und ihre Heimat verloren haben, die Gefühle der Soldaten, die jetzt an der Front kämpfen. Aber das ist alles Fiktion und hat nichts mit Mitgefühl zu tun. Schließlich sind die Gefühle und der Schmerz des Krieges ihre, nicht meine. Wenn ich also vor der Genesung aus Angst vor einem Rückfall Gefühle vermieden habe, akzeptiere ich sie jetzt und nenne alles beim Namen, was gerade in mir vorgeht. Ich tue dies, weil ich alle meine Gefühle, sowohl die schlechten als auch die guten, meinem liebenden Gott überlassen und sie loslassen kann. Ich glaube, dass Leugnung und das endlose Nachdenken über meine Gefühle nichts anderes sind als ein Kampf, mit dem ich mich ständig in Spannung halte und mein Ego nähre.
- In der Gegenwart leben. Der Krieg kann mich sehr gut lehren das Heute zu schätzen. Denn ein Morgen wird es vielleicht nicht geben. Und das Programm zeigt, wie man das in der Praxis machen kann. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was Gottes Wille für mein Land ist, ob es morgen Frieden geben wird oder ob der Krieg noch lange dauern wird. Was ich aber weiß ist, dass das Nachdenken über etwas, was ich sowieso nicht kontrollieren kann, ganz bestimmt nicht der Wille einer höheren Macht für mich ist. Schließlich bin ich nicht der Präsident dieses Landes und meine Worte lösen keine Probleme der großen Politik. Aber Gott will ganz sicher, dass ich hier und jetzt nützlich bin. Je mehr ich nach spirituellen Prinzipien lebe, desto nüchterner werde ich, und desto eher kehrt geistige Gesundheit zu mir zurück. Das Problem für mich ist nicht, dass in meinem Land Krieg herrscht, sondern wie ich währenddessen weiterleben und den Frieden in mir bewahren kann. Katastrophen und Kriege haben zu allen Zeiten und in allen Winkeln der Welt gewütet. Wie mein Sponsor sagt: Spirituelle Menschen standen über all dem, weil sie versuchten, nicht äußere Ereignisse und menschliche Tragödien zu sehen, sondern Wunder und Taten Gottes, der im Leben seiner Kinder jeden Augenblick gegenwärtig ist.
Alexander B., Ukraine, trocken seit 17. Oktober 2020.